Schlaraffenland mit Nebenwirkungen
In nahezu jedem Land weltweit breitet sich eine chronische Erkrankung aus, die als Adipositas in den letzten Jahrzehnten zahlenmäßig um das Dreifache zugenommen hat. Assoziiert mit der Adipositas sind inzwischen mehr als 60 unterschiedliche Erkrankungen bekannt, und je höher das Gewicht ansteigt, umso kürzer zeichnet sich die Lebenserwartung der Betroffenen ab.
Adipöse Menschen kommen selten aus eigener Kraft und Disziplin aus dem Teufelskreis aus Fehlernährung und Bewegungsverweigerung heraus, und stehen einer kontinuierlich steigenden Gewichtszunahme scheinbar ratlos gegenüber. Die Frage stellt sich, warum die Gewichtsreduktion und mehr noch der einmal erreichte Gewichtsverlust, nicht dauerhaft (durch) gehalten werden kann.
Professor Mathias Blüher, Leiter der Adipositas-Ambulanz der Universität Leipzig, begründet dies mit dem gestörten Energie-Gleichgewicht, dem biologisch und sozial geprägten Menschen, der immer und überall Nahrung vorfinden und zu sich nehmen kann, seine tägliche Arbeit aber vorwiegend am Schreibtisch sitzend nachgeht.
Beispielhaft führte er miteinander spielende Kinder an: vor wenigen Jahren noch spielten sie draußen an der frischen Luft, jagten sich auf Spielplätzen und Parkanlagen nach, und ihr fröhliches Rufen und Lachen erfüllte die Umgebung.
Heutzutage spielen die Kinder miteinander, obwohl sie kilometerweit voneinander entfernt sind, an ihrem PC, Laptop oder Android-Telefon bis sie Kontakt zueinander aufnehmen, sich Botschaften im sozialen Netz zusenden, oder im Internet gemeinsam Strategie- oder Kriegsspiele miteinander teilen, um die nächsthöhere Stufe des Spiels zu erreichen. Dieses Spielen findet im Sitzen statt und erfordert keinen körperlichen Einsatz. Snacks, Schokoriegel und gesüßte Getränke stehen meist bereit, und die Nahrungsmittelindustrie findet ständig neue Wege, für Kinder attraktive Variationen dieser ungesunden, zu süßen oder zu salzigen Waren zu entwickeln. Der Verantwortung des damit angerichteten Unheils Adipositas entzieht sich die Industrie ebenso wie die Politik.
Wurde durch ungesundes Essen in großen Portionen das Normalgewicht bereits weit hinter sich gelassen, verlangt der Körper nach immer mehr Essen. Hieran ist das Belohnungssystem im Gehirn wesentlich beteiligt, dem aber ein komplexer Mechanismus mit vielen Stellschrauben zugrunde liegt.
So verändert sich das Mikrobiom im Darm, die Schlafqualität leidet, das normale Atmen wird schwerer und jede Treppe bedeutet schon Kurzatmigkeit. Die angesammelten Fettzellen im Bauchbereich sind hochaktiv und setzen Hormone und Entzündungszellen frei, so dass sich letztlich eine chronisch systemische Entzündung im Körper der Adipösen ausbreitet, die müde und schlapp macht; körperliche Aktivität ist dann nicht mehr gefragt.
Auch liegen Einsparungen beim Essen und große Aktivität nicht in der normalen Biologie des Menschen, der von der Geburt an bis ins Erwachsenenalter auf Wachstum ausgerichtet ist. Sinnlose Bewegung ist dem Menschen naturgemäß fremd.
Lange Zeit verweigerte selbst unser Gesundheitssystem die Gefahr zu erkennen, die von der Adipositas für die Volksgesundheit ausgeht: „Als undisziplinierte Menschen“ wurden Übergewichtige und Adipöse stigmatisiert. Die wenigsten Ärzte haben mit den Betroffenen das Problem ernsthaft besprochen, obwohl eine gigantische Diskrepanz zwischen dem Bedarf an ärztlichem Gespräch der Betroffenen und der ärztlichen Bereitschaft darüber zu sprechen existiert. Auch fehlen in Deutschland die Versorgungsstrukturen, und die fehlende Bereitschaft der Krankenkassen und -versicherungen trägt dazu bei das Adipositas-Problem in Deutschland zu verschärfen.
Eine defizitäre Versorgungslandschaft verursacht Evidenzdefizite, denn selbst wenn die Adipositas nicht heilbar ist, ist sie doch zumindest behandelbar, hob Blüher hervor.