Mit Empathie und Verständnis für die Probleme der Adipösen
Berlin. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse bedarf es eines Umdenkens in der Bevölkerung, wenn langfristig eine Umkehr der konstant wachsenden Zahl von Übergewichtigen und Adipösen erreicht werden soll. Für die Eingrenzung der gesundheitlich bedrohlichen Entwicklung wurde von der EU der European Obesity Day ins Leben gerufen. Die Adipositas Stiftung Deutschland wurde damit betraut, in einer bundesweiten Kampagne und einer Pressekonferenz in der Hauptstadt diesen Tag zur Information und Aufklärung zu nutzen und zu begleiten.
Inzwischen gehören fast zwei Drittel der Bevölkerung zu den Übergewichtigen und Adipösen, und dies kann nicht als Folge hemmungslosen Essens apostrophiert und die Betroffenen diskriminiert werden. Bisher wurden genetische- und Umweltfaktoren weitgehend vernachlässigt, die permanent und im Überfluss zur Verfügung stehenden, hochverdichteten und hochkalorischen Nahrungsmittel ignoriert und TV oder Computer als wesentliche Wirtschaftsfaktoren nicht konsequent für die Einschränkung der körperlichen Aktivität verantwortlich gemacht.
Zu der Pressekonferenz eingeladen waren medizinische Wissenschaftler, Apotheker und Betroffene, um ihre spezifischen Erfahrungen mit krankhaftem Übergewicht zu präsentieren und die Kompetenzen im Umgang mit dem Problem zu nutzen. „Wenn alle Beteiligten für den Kampf gegen das Übergewicht und die Adipositas sensibilisiert und gestärkt werden, kann es gelingen diese bedrohliche Entwicklung aufzuhalten“, sagte Dr. Lutz Schneider, Apotheker aus Wuppertal, der die Pressekonferenz der Adipositas Stiftung Deutschland in Berlin moderierte.
Es wird mit zu wenig Empathie auf diese komplexe Erkrankung und die diversen Ursachen eingegangen, beklagte Professor Stephan Jacob aus Villingen-Schwenningen, der als 2. Vorstand der Adipositas Stiftung Deutschland auf die psychosozialen-, und besonders auf die organischen Komplikationen der Erkrankung hinwies.
Die Gesundheit des Einzelnen werde nicht durch sein Körpergewicht, sondern allein durch die Folgeerkrankungen bedroht, führte Jacob aus, und bezeichnete das vermehrte viszerale Fettgewebe als metabolisch hochaktives Organ, das die Blutglukose, die Blutfettwerte, den Blutdruck und die Arteriosklerose zu kardiovaskulären Risikofaktoren werden lässt. Schon alleine um die enormen Folgekosten zu vermeiden, muss frühzeitig interveniert werden, damit die Folgen des Übergewichts, wie Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung, viszerale Fettansammlung und Diabetes mellitus vermieden werden. Es ist in erster Linie die Aufgabe jedes Therapeuten diejenigen Patienten zu identifizieren, die von einer Life-Style-Intervention mit Ernährungsumstellung und vermehrter körperlicher Aktivität gesundheitlich profitieren.
Am eigenen Leib erfahren musste Oliver Welchering die Situation eines Adipösen in der Gesellschaft. „Hinter jedem großen Gewicht stehen große Probleme“, führte er aus, die er häufig einem psychosozialen Anlass geschuldet sieht, die eine hohe Affinität zum Suchtverhalten zeigen und den „Kummerspeck“ anwachsen lassen. Dass Nahrungsmittel als Suchtsubstanz dieses Kollektivs überall und jederzeit zur Verfügung stehen, verschärft die Situation, die initial zwar noch steuerbar sei, aber unvermeidlich zu einem „point of no return“ führen, von dem auch die Veränderung des Lebensstils nicht mehr weg führt.
Hat das Fettgewebe erst eine eigene endokrinologische Bedeutung erlangt, ist man dem eigenen Körper ausgeliefert, so Welchering, der mit 208 kg ein Maximalgewicht erreicht hatte, dem er ohne medizinische Hilfe nicht mehr zu Leibe rücken konnte. Er unterzog sich einer bariatrischen Operation mit Magenbypass, und konnte inzwischen nahezu 100 kg Körpergewicht abbauen.
Arbeitslosigkeit und die komplette Beeinträchtigung des täglichen Lebens, in dem jeder Schritt zur Mühsal wurde, gehören inzwischen der Vergangenheit an, und auch die fatale Reaktion einer selbst gewählten sozialen Isolation hat er überwunden. Mit 208 kg Körpergewicht trifft man in der Öffentlichkeit auf eine ausgesprochen negative Aufmerksamkeit, die vergleichbar ist mit dem Staunen vor einem Außerirdischen in neon-grüner Einfärbung, begründet Welchering seinen sozialen Rückzug. Dabei wären Empathie und Verständnis für die Probleme der Adipösen die wirklich hilfreichen Angebote des sozialen Umfeldes.
Mit seiner Gewichtsreduktion wurden auch die gesundheitlichen Probleme immer weniger relevant, weil sich bisher weder ein Diabetes, noch Arthrose oder Stoffwechselprobleme manifestiert haben. Vor dem Hintergrund der initialen Weigerung der Krankenkassen die Kosten für den bariatrischen Eingriff zu übernehmen, zeigt sich heute der Erfolg der Maßnahme als deutliche Kosteneinsparung aufgrund der Vermeidung schwerwiegender Folgekomplikationen. Inzwischen kann Welchering wieder Sport treiben und folgt einem ausgesprochen gesunden Lebensstil. „Sehr häufig sind Menschen aus sozialen Randgruppen von Adipositas betroffen, denen eine Selbstzahlung der bariatrischen Chirurgie nicht möglich ist, und die ungebremst ein Risikoprofil ausbauen, das in einem breiten Krankheitsspektrum enden muss“, so Welchering in einem dringenden Appell an die Krankenkassen, die Kosten für die kurative bariatrischen Chirurgie und die medikamentös unterstütze Gewichtsreduktion zu übernehmen, um dem Gesundheitssystem gewaltige Kosten für die Komplikationen der Adipositas zu ersparen.
„Beratung zur gesunden Ernährung, zur Sporttherapie und bei Bedarf zur medikamentösen Unterstützung, etwa durch Orlistat, im Rahmen eines Gewichtsreduktionsprogramms gehören zu den originären Aufgaben des Apothekers“, sagte Johanna Jäger, Apothekerin aus Berlin anlässlich der Pressekonferenz des EOD in Berlin. Besonders vor Scharlatanerie zu warnen und die Gewichtsreduktion sachgerecht zu verwalten, gehört zur seriösen Kundenbetreuung. Oft greifen die Übergewichtigen und Adipösen zum letzten Strohhalm und liefern sich allzu häufig den pekuniären Interessen unseriöser Produkthersteller aus.
Frau Jäger registriert zwei unterschiedliche Verhalten von übergewichtigen Kunden, nämlich jene, die das Problem von sich aus ansprechen, weil sie abnehmen wollen, und solche, die bereits mit Rezepten gegen die Folgeerkrankungen in der Apotheke erscheinen, denen aber das Problembewusstsein für die krankmachenden Folgen der Adipositas nicht klar zu sein scheint.
Kalorienzählen ist nach Ansicht der Expertin ein falscher Weg zur Gewichtsreduktion, weil das Essen mit Emotionen verbunden ist, die nicht abtrainiert werden können. Die meisten Diätempfehlungen münden daher in dem weit verbreiteten Jo-Jo-Effekt, weil niemand seine Emotionalität dauerhaft kontrollieren kann.
Die Experten waren sich einig, dass nicht jeder Übergewichtige auch negative Auswirkungen auf seine Gesundheit erlebt, weil selbst ein BMI von 28 bei gleichzeitiger körperlicher Fitness noch keinen Krankheitswert aufweist. Jacob plädierte daher für das „obesity staging system“ von Professor Sharma aus Kanada, der als internationaler Beirat der Adipositas Stiftung Deutschland zur Lösung der gesundheitsrelevanten Probleme beiträgt. Mit Hinweis auf den Bauchumfang als ausgezeichnetes Maß für das viszerale Fettgewebe, das bei Frauen nicht größer als 88 cm sein soll und bei Männern 102 cm nicht überschreiten darf, werden Prävention und Therapie erforderlich, wenn erste gesundheitliche Veränderungen auftreten. Während Hypertonie, Diabetes und kardiovaskuläre Erkrankungen enorme Kosten des Gesundheitssystems verschlingen, wird bei Übergewicht und
Adipositas als Verursacher solcher Diagnosen die Kostenübernahme verweigert. Während in vielen europäischen Ländern die Antiadipositas-Pharmaka erstattungsfähig sind, verweigern die Kostenträger in Deutschland die Kostenübernahme für die Prävention und Therapie zur Vermeidung von Folgekosten, so die Experten.
Vor allem einer Stigmatisierung der Übergewichtigen und Adipösen im beruflichen und wirtschaftlichen Bereich muss entgegengewirkt werden, weil Versicherungen, Arbeitgeber und selbst Banken bei der Gewährung von Darlehen Vorbehalte gegenüber dem Kollektiv zeigen. Während Alkoholismus oder starke Nikotinabhängigkeit verborgen bleiben, ist Adipositas ein von jedem erkennbares Problem, und erschwert unmittelbar den Zugang zu einer Arbeitsstelle, einer Lebens- und Invaliditätsversicherung sowie einem Bankdarlehen.
Dass die Zahl der Ratgeber für gesunde Ernährung, Diäten und Gewichtsreduktion unendlich hoch ist, die Klinik- und Kuraufenthalte mit Langzeittherapie oft nicht zielführend sind, zeigt nach Ansicht der Experten, dass es kein langfristiges Konzept zum Lebensstil-Coaching gibt. Sie fordern eine Netzwerkstruktur für Beratung und Unterstützung der Betroffenen, und vor allem die Honorierung der therapeutischen und beratenden Leistungen der Experten. Nur durch ein strukturiertes Lebensstil-Coaching und empathische Begleitung in einer Netzwerkstruktur aus Ärzten, Apothekern, Sportvereinen und Fitness-Studios lässt sich eine lebenslange Änderung zur gesunden Lebensweise erreichen.
„Ernährung und Gesundheit gehören in den Schulunterricht“, wünschte sich Oliver Welchering von der Politik, um das Basiswissen zur richtigen Ernährung schon früh zu vermitteln.