Moderates Weintrinken zum Essen ist Diabetesprävention
Jede Gesellschaft ist von einer eigenen Kultur, besonders des Essens und Trinkens geprägt. Die mediterrane Ernährung zeichnet sich aus durch reichlich Obst und Gemüse, mehr Fisch als Fleisch und Weingenuss zu den Mahlzeiten, was als gesunde Ernährung definiert ist. Diese Ernährungsform wird für Menschen mit Typ 2-Diabetes nachdrücklich empfohlen, weil neben positiven Effekten auf den Glukosestoffwechsel und das Körpergewicht vor allem ein Überlebensvorteil zu erwarten ist.
Schon im späten 19. Jahrhundert hatte Carl von Noorden, ein deutscher Internist, der die erste Fachklinik für „Zuckerkranke“ in Frankfurt gründete, den Vorteil des moderaten Weintrinkens für die Glukosemetabolisierung erkannt und genutzt. Basis der therapeutischen Intervention vor der Insulinzeit waren die Hafertage, die grundsätzlich zu den Hauptmahlzeiten Wein oder Bier vorschrieben. Seine bereits damals erzielten beachtlichen Erfolge mit dieser Diabetesbehandlung sind heutzutage in wissenschaftlichen Studien und aus Praxiserfahrungen bestätigt. Evident sind die Vorteile des moderaten Alkoholkonsums als positive Effekte auf die Insulinresistenz, den Glukosemetabolismus, das Übergewicht und die Hypertonie; letztendlich als Prävention von Herz-Kreislauf-Störungen.
Im Journal of Cadiovascular Medicine and Cardiolog im Mai 2020 diskutiert Professor Dr. Kristian Rett vom Endokrinologikum München die Frage, ob Menschen mit Diabetes zur Alkoholabstinenz geraten werden soll, oder ob ein Glas Wein zur Diabetesprävention zum Abendessen verordnet werden sollte.
Zweifellos erfordert die Diabetestherapie eine interdisziplinäre Strategie der Behandlung sowie der medikamentösen und nicht-medikamentösen Intervention. Einfluss kann durch die Verhaltensänderung des Betroffenen in unterschiedlichen Lebensbereichen, die Trinkgewohnheiten, sowie mit Sport und Schlaf auf den Erkrankungsverlauf genommen werden. Mit Hinweis auf die belastbare Evidenzbasis des in der deutschen und mediterranen Esskultur verankerten Weintrinkens zu den Mahlzeiten findet diese in den diabetologischen Leitlinien und Schulungen keine entsprechende Aufmerksamkeit. Dies geht eindeutig zu Lasten der Betroffenen und deren Therapeuten.
Im letzten Jahrzehnt hat sich eine enorme Verbesserung der Evidenzlage für die Medikation einer Therapie des Typ 2-Diabetes etabliert. Die moderne Therapie zielt nicht mehr nur auf die Surrogatparameter, sondern adressiert die klinischen Endpunkte und bevorzugt Substanzen mit nachgewiesenem Vorteil für den Patienten. Neues Wissen schlug sich auch in der nicht-medikamentösen Therapie nieder: mit dem Paradigmenwechsel wurde die quantitative Begrenzung der einzelner Nahrungsbestandteile zu einer qualitativen Bewertung der Makronährstoffe (Kalorie, Fette, Kohlenhydrate und Ätanol) in der Ernährung durch gesundheitsfördernde Nahrungsmittel.
Der Lebensstil als Komponente der Diabetesbehandlung wird in den Leitlinien nicht den neuen Erkenntnissen gerecht und teilweise widersprüchlich dargestellt, beklagt der Autor. Der gesicherte Nachweis zur Reduzierung der Diabetesinzidenz durch mediterrane Ernährung und die damit verbundene Senkung der kardiovaskulären Morbidität und Mortalität fand keinen entsprechenden Raum in den Leitlinien. Der Vorteil dieser Ernährung ist in einer detaillierten Ernährungsanamnese meßbar (14-Punkte Fragebogen), und gehört in die Diabetikerschulung und Ernährungsberatung der Betroffenen.
Ein moderater Weinkonsum ist als einer von neun gesundheitsfördernden Maßnahmen der mediterranen Ernährung belegt und erfasst. Entgegen dieses Wissens greifen die Leitlinien fast ausschließlich das Schadenspotential und den Suchtfaktor von übermäßigem Alkoholkonsum auf, mit der Warnung vor Hypoglykämien. Keine Erwähnung findet der belegte Gesundheitsnutzen des moderaten Weintrinkens zum Essen, und zwischen Abstinenz, moderatem und erheblichen Alkoholgebrauch wir nicht differenziert. Das Phänomen der dosisabhängigen Effektumkehr (Hormesis oder J-Curve), die das richtige Quantum für Menschen mit Diabetes anzeigt, wird verschwiegen.
Für Diabetespatienten und Diabetologen führen die Berichte hochrangiger Publikationen von globalen Studien mit niedriger Evidenz zur Verunsicherung, wenn eine ideologische Sichtweise bedient wird, die für vollständige Abstinenz plädiere und die gesundheitlichen Vorteile durch risikofreies maßvollen Weintrinken negieren. Professor Rett warnt vor perseverierender medialer Desinformation und mahnt kluge ärztliche Entscheidungen und gedankliche Klarheit zum Wohle der Diabetespatienten an.
Es wurden die Ergebnisse der ADVANCE-Studie in einer Subgruppe zum Trinkverhalten und der Trinkmenge erfasst und mit den klinischen Endpunkten korreliert. Ein moderater Alkoholkonsum ergab im fünf-Jahres-Vergleich mit der Abstinenzgruppe, dass kardiovaskuläre Ereignisse, mikrovaskuäre Probleme und die Gesamtmortalität jeweils um 17, 15 und 13 Prozent signifikant reduziert waren; deutlicher noch in der Gruppe mit moderatem Weinkonsum bei einer relativen Risikoreduktion von 22, 15, und 23 Prozent. Steigen die Trinkmengen über den moderaten Weinkonsum hinaus an, verschwindet der kardiovaskuläre Vorteil für das Kollektiv, dosisabhängig steigt dieses für kardiovaskuläre Ereignisse und Tod.
Die Moli-SANI-Studie mit 1.995 Diabetikern registriert den präventiven Vorteil des moderaten Weintrinkens über einen Zeitraum von vier Jahren, in denen mit steigender Adhärenz für mediterrane Ernährung die Mortalität zurückgeht. Zudem wird belegt, dass ein moderater Weinkonsum zu dieser Ernährung bei Menschen mit Diabetes den höchsten erreichbaren Vorteil unter allen mediterranen Nahrungsmitteln aufweist. Demnach, so der Autor, ist das moderate Weintrinken zu den Mahlzeiten diejenige Komponente mit dem höchsten Benefit für die Herz-Kreislauf-Gesundheit für Menschen mit Diabetes.
Er plädiert keineswegs dazu die Diabetiker zu ermuntern unkontrolliert Alkohol zu trinken, erwartet aber von einer Beratung und Schulung dieses Kollektivs auch die Weitergabe der Information, dass moderater Weingenuss zu den neun empfehlenswerten Aspekten mediterraner Ernährung gehört, die den Patienten nicht vorenthalten werden sollten.
Mit Hinweis auf einen verantwortlichen Umgang mit der europäischen Kultur des Essens und Trinkens sollten die Vorteile des moderaten Weintrinkens nicht verschwiegen werden; der Hinweis auf Alkoholverzicht am Arbeitsplatz und als Verkehrsteilnehmer ist Teil einer konsequenten und zugewandten Beratung und Schulung von Menschen mit Diabetes.
Literatur beim Verfasser:
Rett K (2020) Should we prescribe abstinence or wine a day with supper in diabetes and prediabetes? J Cardiovasc med Cardiol 7(2): 152-156.
DOI:https://dx.col.org/10.17352/2455-2976.000131