Wissenschaftliche Konzepte zu Betreuung und Therapie fehlen noch
Im Kindesalter wirken sich Adipositas und Übergewicht für die Gesundheit der Heranwachsenden sehr belastend aus. Nicht allein wegen des mit dem Körpergewicht ansteigenden Risikos einen Diabetes zu entwickeln mit Störungen des Glukose- und Lipidmetabolismus, sondern besonders aufgrund des hohen Leidensdrucks und der Diskriminierung, die ihnen täglich und von allen Seiten begegnen.
Die Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit extremer Adipositas wird vom Robert Koch-Institut unterstützt – entsprechend dem Referenzsystem der Welt-Gesundheits-Organisation: 26,3 Prozent der fünf- bis 17-Jährigen leiden bereits an Übergewicht; 8,8 Prozent befinden sich im Stadium der Adipositas. In Deutschland existieren keine überzeugenden wissenschaftlich basierte Therapie- und Betreuungskonzepte, beklagen Experten auf der 34. Jahrestagung der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG) in Wiesbaden. Es fehlt die Unterstützung durch das Gesundheitssystem und die Kostenübernahme der Krankenkassen. Erschwerend wirken viele gesellschaftlichen Vorurteile, die den erforderlich frühzeitigen Therapiebeginn verhindern.
Versorgungslücken und Stigmatisierung wurden auf der Kongress-Pressekonferenz umfassend diskutiert.
„Die Diskriminierung der Betroffenen findet sich in der Familie, am Arbeitsplatz und in der Schule, regelmäßig wird sie über die Medien verbreitet und selbst im Gesundheitssystem ist sie relevant,“, sagte Professor Martin Wabitsch, Tagungspräsident der DAG, unter Hinweis auf den hohen Leidensdruck, der für dieses Kollektiv davon ausgeht.
Diese Vorurteile sind häufiges Hindernis beim Einstieg in die Berufswelt, weil Übergewicht und Adipositas oft mit Charakter- und Willensschwäche assoziiert wird.
Die Abwertung und soziale Ausgrenzung der Menschen mit starkem Übergewicht hat oft psychische Folgen, erklärte Stefanie Wirtz von der Adipositas-Hilfe-Deutschland eV. Das Selbstwertgefühl leidet und Depressionen können sich einstellen. „Viele Menschen reagieren auf psychische Belastungen mit ungünstigem Essverhalten, das landläufig als ‚Frustessen‘ bekannt ist.“ Dass dieses Verhalten kontraproduktiv ist, versteht sich von selbst, weil weitere Gewichtszunahme und Verschlimmerung der Adipositas unmittelbare Folgen sind. Wirtz: „Die Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche beinhalten ein überreichliches Angebot zu süßen, zu fetten und zu salzigen, hochverarbeiteten Lebensmitteln. Der weit verbreitete Bewegungsmangel fördert die Ausprägung von Adipositas und schadet dem gesunden Stoffwechsel.“
Konflikte in der Familie sind oft vorhersehbar, wenn die Eltern ihren Kindern helfen wollen; sie fühlen sich aber hilflos und so enden alle Gespräche zum Körpergewicht der Kinder in Vorwürfen und Streit, weil kompetente Unterstützung durch Beratungsstellen meist fehlen, so Wirtz.
Nach Ansicht des Tagungspräsidenten ist die Behandlung von Jugendlichen mit extremer Adipositas extrem aufwändig. Konventionelle verhaltenstherapeutische Strategien bleiben meist erfolglos und chirurgische Maßnahmen sind aufgrund der strengen Indikationsstellung meist nicht möglich. Mit Hinweis auf die JA-Studie, die vom Kompetenznetz Adipositas realisiert und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung seit 2012 gefördert wird, erhalten Jugendliche zwischen dem 14. Und 21. Lebensjahr mit einem BMI jenseits von 30 eine neue, umfassende Versorgung in fünf bundesdeutschen Kliniken. Jugendliche mit extremer Adipositas nehmen über verschiedene Zugangswege – einschließlich sozialer Institutionen, medizinischer Behandlungseinrichtungen und Patientenregister – an der Studie teil, erklärt Wabitsch. Die Jugendlichen werden auf der Suche nach einem Arbeits- oder Ausbildungsplatz unterstützt.