Adipositas sollte keine neue Normalität der Bevölkerung sein
Die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas steigen von Jahr zu Jahr an. Dies belegt die Auswertung einer in der renommierten Fachzeitschrift The Lancet 2016 publizierten Studie der non-communicable Diseases (NCD). Die Risk Factor Collaboration erhob von 19,2 Millionen Erwachsenen in 186 Ländern über den Zeitraum von 1975 bis 2014 die Daten. Die Ergebnisse zeigen bei Männern einen durchschnittlichen Anstieg des BodyMassIndex (BMI), der von 21,7 kg/qm auf 24,2 kg/qm; die Prävalenz der Adipositas erhöhte sich in diesem Zeitraum bei Männern von 3,2 Prozent auf 10,8 Prozent. Bei Frauen stieg der BMI von 22.1 kg/qm auf 24,4 kg/qm, die Prävalenz der Adipositas stieg von 6,4 Prozent auf 14,9 Prozent.
Auf dem Vormarsch befindet sich diese Entwicklung auch in Deutschland. Dementsprechend weist der Mikrozensus des Statistischen Bundesamts eine erhebliche Verminderung des Anteils der Normalgewichtigen zwischen 1999 und 2009; der Anteil an Übergewichtigen blieb weitgehend konstant, allerdings nahmen die Menschen mit Adipositas und einem BMI jenseits von 30 kg/qm erheblich zu. Die „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ des Robert-Koch-Instituts ermittelt zwischen 2009 und 2011 eine Adipositas-Prävalenz von 23,3 Prozent bei Männern und 23,9 Prozent bei Frauen.
Definiert ist die Adipositas nach der WHO-Klassifikation als eine über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfetts, zu dessen Beurteilung der BMI herangezogen wird, der als Quotient aus Gewicht und Körpergröße zum Quadrat die Adipositas ab einem BMI von > 30 kg/qm definiert.
Nicht nur die Menge des Körperfetts, sondern auch dessen Verteilung spielt eine Rolle für die kardiovaskulären und metabolischen Risiken. Befinden sich größere Fettmengen im abdominellen Bereich, spricht man von viszeraler Fettmasse, die eng mit kardiovaskulären Risikofaktoren und Komplikationen assoziiert ist. Als weiteres Maß wird der Taillenumfang herangezogen, der bei Frauen nicht höher als 88 cm sein und bei Männern 102 cm nicht überschreiten sollte.
Ernährungswissenschaftler bezeichnen die bisherigen präventiven und therapeutischen Gegenmaßnahmen als nicht erfolgreich genug, um diese steigende Prävalenz übergewichtiger und adipöser Menschen einzudämmen. Obwohl die große Zahl und Bedeutung der Risikofaktoren lange bekannt sind, ist Adipositas noch immer nicht als Krankheit in Deutschland anerkannt. Als pathologischen Zustand wird die Adipositas erst dann bewertet, wenn es im Kontext der Gewichtszunahme zu Begleiterkrankungen gekommen ist, die gerne als altersbedingt eingestuft werden.
Damit wird hierzulande die WHO-Definition ignoriert, die Adipositas eindeutig als Krankheit bezeichnet. Noch immer wird die Ursache der Adipositas einem schuldhaften Fehlverhalten der Betroffenen angelastet, obwohl die wissenschaftlichen und klinischen Studien eine multikausale Beteiligung sehen, die auf biologischen, psychosozialen und umweltbedingten Risikofaktoren beruht:
Familiäre Disposition, genetische Ursachen
Lebensstil mit Bewegungsmangel und Fehlernährung
Ubiquitäre Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln
Schlafmangen, Stressbelastungen
Depressive Erkrankungen
Niedriger Sozialstatur
Ess-Störungen (Binge Eating Disorder, Night Eating-Disorder)
Endokrine Erkrankungen (Hypothyreose, Cushing-Syndrom)
Medikamente wie Antidepressiva, Neuroleptika, Antiepileptika, Antidiabetika, Glukokordikoide, Betablocker
Andere Ursachen können auch in einer krankheits- oder altersbedingten Immobilisierung, Schwangerschaft oder Nikotinverzicht gefunden werden.
Gesichert ist, dass die adipöse Fettgenerierung die Grenzen der unterschiedlichen Organ und/oder Gelenkstrukturen schädigend überschreitet. Vor allem sind Übergewicht und Adipositas die wichtigsten Promotoren des metabolischen Syndroms, das sich aus viszeraler Adipositas, prädiabetischer oder diabetischer Stoffwechsellage, erhöhtem Cholesterin und Hypertonie generiert.
Außer Frage steht, dass diese Konstellation zu vermehrter Komorbidität und gravierenden Folgeerkrankung führt, die nicht allein physischer Natur sind, sondern auch in erheblichem Ausmaß die Psyche belasten. Neben dem Risiko für kardiovaskuläre Erkrankung, Schlaganfall, Hypertonie, Herzinsuffizienz oder venöser Thromboembolie, treten Schlafstörungen und Schlafapnoe, Atemnot und Dyspnoe, Gicht, Lipid- und Glukosestoffwechselstörung sowie dem Typ 2-Diabetes mellitus auf; psychische Störungen, die als Depression, Angst- und somatoforme Störungen werden im Kollektiv der Adipösen häufiger diagnostiziert.
Effektive Prävention und konsequente Therapie sind unumgänglich, um eine Gewichtsentwicklung in Deutschland zu verhindern, die Übergewicht und Adipositas als eine neue Normalität akzeptiert und große Teile der Bevölkerung zu chronisch kranken Menschen werden lässt.